
Kein Anlass zu Bedenken wegen Artikel 101
Europäische Kommission stellt Orientierungshilfen für die Gründung einer Lizenzverhandlungsgruppe für standardessenzielle Patente in der Automobilindustrie bereit
Die Europäische Kommission hat auf der Grundlage der von den Antragstellern in ihrem Ersuchen vorgelegten Informationen die Vereinbarkeit der ALNG mit Artikel 101 AEUV geprüft
Die EU-Kommission hat ein informelles Beratungsschreiben mit kartellrechtlichen Orientierungshilfen für die Gründung einer Lizenzverhandlungsgruppe in der Automobilindustrie (Automotive Licensing Negotiation Group, im Folgenden "ALNG") herausgegeben. Die Gruppe soll Lizenzen für die Nutzung von Technologien aushandeln, die standardessenziellen Patenten (SEP) unterliegen. Mit diesem Beratungsschreiben will die Kommission zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Automobilindustrie beitragen, wie in dem im März 2025 vorgelegten Aktionsplan für die europäische Automobilindustrie dargelegt wurde.
Das Schreiben wird zur gleichen Zeit übermittelt wie ein anderes Schreiben an APM Terminals (einen weltweit tätigen Hafenterminalbetreiber, der Teil der Maersk-Unternehmensgruppe ist), das eine Vereinbarung über die gemeinsame Beschaffung von in Häfen verwendeten Container-Umschlaganlagen und die gemeinsame Festlegung technischer Mindestvorgaben dafür betrifft. Die beiden Schreiben sind die ersten Beratungsschreiben, die die Kommission auf Grundlage der Bekanntmachung über informelle Orientierungshilfen von 2022 übermittelt hat. Diese Bekanntmachung ermöglicht es Unternehmen, die Kommission um informelle Orientierungshilfen zu neuen oder ungelösten Fragen zur Anwendung der EU-Wettbewerbsvorschriften zu ersuchen, damit die Unternehmen ihre Vereinbarungen und einseitigen Verhaltensweisen sachkundig prüfen können.
Die Kommission ist der Auffassung, dass die ALNG keinen Anlass zu Bedenken wegen Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gibt, soweit die Tätigkeiten der ALNG die folgenden Voraussetzungen erfüllen:
>> Die ALNG handelt Lizenzen für Standards aus, die nicht automobilspezifisch sind und bei denen der gemeinsame Marktanteil der ALNG-Mitglieder 15 Prozent der Gesamtnachfrage nach den betreffenden SEP oder Standards nicht übersteigt.
>> Die ALNG steht anderen interessierten Unternehmen der Automobilindustrie, sowohl Automobilherstellern als auch Zulieferern, zur Teilnahme offen.
>> Die Verhandlungen mit der ALNG sind für die SEP-Inhaber freiwillig, d. h., die SEP-Inhaber können jederzeit in Verhandlungen eintreten oder sie beenden.
>> Der Informationsaustausch zwischen den ALNG-Mitgliedern beschränkt sich auf das für die Durchführung gemeinsamer Lizenzverhandlungen objektiv notwendige Maß, und es werden keine sensiblen Geschäftsinformationen zwischen den ALNG-Mitgliedern austauscht.
Wettbewerbsrechtliche Würdigung der Kommission
Die Europäische Kommission hat auf der Grundlage der von den Antragstellern in ihrem Ersuchen vorgelegten Informationen die Vereinbarkeit der ALNG mit Artikel 101 AEUV geprüft.
Dabei gelangte sie zu dem Schluss, dass die geplante ALNG angesichts ihres Gegenstands und ihrer Ziele, einschließlich der in ihrer Satzung vorgesehenen Vorkehrungen, keine Beschränkung des Wettbewerbs bezweckt. Die Kommission kam ferner zu dem Ergebnis, dass die ALNG auch keine tatsächlichen oder potenziellen wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen haben dürfte.
Dafür sieht sie folgende Gründe:
>> Es ist unwahrscheinlich, dass die ALNG-Mitglieder auf einen gemeinsamen Marktanteil von mehr als 15 % der relevanten Gesamtnachfrage auf dem bzw. den relevanten Einkaufsmärkten (d. h. den vorgelagerten Lizenzmärkten für die relevanten Technologiestandards) kommen werden, da diese Technologien neben der Automobilindustrie noch in vielen anderen Sektoren und für viele andere unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden.
>> Selbst wenn der gemeinsame Marktanteil der ALNG-Mitglieder auf dem bzw. den Absatzmärkten (d. h. den nachgelagerten Märkten, auf denen ALNG-Mitglieder Fahrzeuge und Fahrzeugteile herstellen und verkaufen) wahrscheinlich bei über 15 % liegen wird, ist die Kommission der Auffassung, dass die ALNG keine spürbaren wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen auf diesen Märkten haben dürfte, u. a. weil die Kosten für SEP-Lizenzen nur einen sehr geringen Anteil an den Gesamtkosten der nachgelagerten Produkte ausmachen.
>> Schließlich stellte die Kommission fest, dass die ALNG das Ziel hat, die Effizienz von SEP-Lizenzverhandlungen für digitale Technologien zu verbessern, was zu den Dekarbonisierungszielen Europas und zum Übergang zur Klimaneutralität bis 2050 beitragen dürfte, wie im Deal für eine saubere Industrie der Europäischen Kommission dargelegt.
Hintergrund
Standardessenzielle Patente (SEP) sind Patente, die für die Umsetzung eines bestimmten Standards in einem Produkt, wie 4G, 5G oder WiFi, erforderlich sind. Im Rahmen des Standardisierungsprozesses verpflichten sich die SEP-Inhaber, Lizenzen für die Nutzung ihrer SEP zu fairen, angemessenen und diskriminierungsfreien Bedingungen zu vergeben.
Im Dezember 2024 ersuchten die Bayerische Motoren Werke Group AG (BMW), die Mercedes Benz Group AG, die thyssenkrupp AG und die Volkswagen AG die Kommission nach der überarbeiteten Bekanntmachung der Kommission über informelle Orientierungshilfen zu neuen oder ungelösten Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung der Artikel 101 und 102 AEUV in Einzelfällen um informelle Orientierungshilfen.
Bei Lizenzverhandlungsgruppen wie der ALNG handelt es sich um eine neuartige Form von Vereinbarungen, da – nach Kenntnis der Kommission – in der EU bislang keine solche Gruppe tätig ist. Lizenzverhandlungsgruppen ähneln gemeinsamen Einkaufsregelungen, die unter Kapitel 4 der Leitlinien der Kommission für Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit fallen. Sie weisen jedoch einige Besonderheiten auf, da Lizenzverhandlungsgruppen auf die Lizenzierung von Rechten des geistigen Eigentums ausgerichtet sind und nicht auf den Kauf von Waren oder Dienstleistungen. Derzeit gibt es im Wettbewerbsrecht keine spezifischen Orientierungshilfen für Lizenzverhandlungsgruppen.
Die im informellen Beratungsschreiben enthaltenen Feststellungen gelten nicht unmittelbar für andere Lizenzverhandlungsgruppen. Die an solchen Gruppen beteiligten Unternehmen sind selbst dafür verantwortlich zu prüfen, ob sie die Bestimmungen des Artikels 101 AEUV einhalten.
Nach Artikel 101 AEUV sind Vereinbarungen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und andere Geschäftspraktiken, die den Handel beeinträchtigen und den Wettbewerb verhindern, einschränken oder verfälschen können, verboten.
Mit der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 wird ein Durchsetzungssystem für die Artikel 101 und 102 AEUV eingeführt, das auf Selbstprüfung beruht, da Unternehmen im Allgemeinen gut in der Lage sind, die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens zu prüfen.
Nach der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 kann die Kommission jedoch informelle Beratung für Unternehmen im Einklang mit der genannten Bekanntmachung leisten, wenn sich neue oder ungelöste Fragen zur Anwendung der EU-Wettbewerbsvorschriften stellen. Ein Ersuchen um Beratung schafft keinen Rechtsanspruch darauf, da dies nicht mit den Rahmenregeln der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 für die Selbstprüfung in Einklang stehen würde. Allerdings kann die Kommission, wenn sie dies für angemessen hält, vorbehaltlich ihrer Durchsetzungsprioritäten solche informelle Beratung in einer schriftlichen Erklärung (Beratungsschreiben) bereitstellen.
Wie in der Bekanntmachung erläutert, dienen Beratungsschreiben dazu, Unternehmen zu helfen, selbst eine sachkundige Prüfung ihrer Vereinbarungen und einseitigen Verhaltensweisen vorzunehmen. Die betreffenden Unternehmen sind weiterhin gehalten, eine eigene Prüfung der Anwendbarkeit der EU-Wettbewerbsregeln vorzunehmen.
Beratungsschreiben geben die Haltung der Kommission zu den ihr von den Antragstellern im Ersuchen vorgelegten Sachverhalten wieder und begründen keine Rechte oder Pflichten für die Antragsteller oder Dritte. Die Klarstellungen in einem Beratungsschreiben werden ausdrücklich davon abhängig gemacht, dass die Angaben der Antragsteller genau und richtig sind, und jede wesentliche Abweichung dieser Angaben vom tatsächlichen Sachverhalt führt dazu, dass das Beratungsschreiben unwirksam wird. Ein Beratungsschreiben kann der Beurteilung derselben Frage durch den Gerichtshof der Europäischen Union nicht vorgreifen. (EU-Kommission: ra)
eingetragen: 14.07.25