Compliance in der "Smart Grid"-Technologie
Automatisierung von Strominfrastruktur - woran die Annahme von Standards scheitern kann
Ein Whitepaper von Experten der IEEE Standards Association zeigt Gründe für die fehlende Annahmen von Standards und stellt Ansatzpunkte zur Förderung und Übernahme nützlicher Standards für die Automatisierung von Strominfrastruktur dar
(16.09.13) - IEEE stellt ein Whitepaper über die Herausforderungen einer breiteren globalen Annahme nützlicher Standards wie IEC61850 zur Verfügung. Der unter der Bezeichnung IEC 61850 bekannte Standard ist eine Sammlung von Normen für die Automatisierung von Infrastrukturen der Energieversorgung einschließlich der Automatisierung von Schaltanlagen, die gegenwärtig auf viel Interesse im Bereich der "Smart Grid"-Technologie stößt. Ein vorrangiges Ziel von Standards ist die Förderung offener, herstellerneutraler Systeme, die Innovation begünstigen. Ein solches Ergebnis würde Marktwachstum erzeugen, den internationalen Handel fördern und ebenso zu kostenoptimierten Lösungen für die damit arbeitenden Energieversorger führen. Der vor mehr als 20 Jahren ratifizierte Standard IEC 61850 sollte sich also einer weitreichenden Annahme erfreuen, da Stromnetz-Architekten weltweit auf der Suche nach Leitlinien für die Implementierung von Stationsautomatisierungen sind. Leider ist dies bisher nicht der Fall.
Der "IEC 61850 - Standard für Kommunikationsnetzwerke und Systeme in Schaltanlagen" wurde vom Technischen Komitee 57 für Referenzarchitekturen zu Stromversorgungsnetzen der IEC geschaffen. Er stellt eine umfangreiche Sammlung von Designprozessen, vordefinierten elektrischen funktionellen Objekten sowie den Mitteln für die Ermöglichung von Datenkommunikation zur Verfügung. Der Standard ist darauf ausgelegt, einen einheitlichen und standardisierten Zugang zu vielen Elementen der Infrastruktur von Stromversorgern zu bieten.
"Der Standard ist sehr vielversprechend, doch während IEC 61850 Gegenstand vieler Diskussionen bei den Energieversorgern bleibt - insbesondere in Bezug auf Interoperabilität über die Plattformen verschiedener Hersteller hinweg - bleibt es doch eine Tatsache, dass nur relativ wenige Installationen das volle Spektrum der Technologien nutzen, zu denen IEC 61850 Leitlinien bereithält", erklärt Sam Sciacca, Senior Member bei IEEE und Experte für den Bereich Utility Automation.
Der Standard IEC 61850 hatte seinen Anfang in dem Projekt UCA 2.0 des Electric Power Research Institute etwa zu derselben Zeit Anfang der 1990er Jahre wie das DNP3 (Distributed Network Protocol), das heute als IEEE 1815 (Standard für Kommunikation in Stromversorgungsnetzen) standardisiert ist. Daher würde man erwarten, eine vergleichbare Zahl von Installationen beider Technologien zu sehen. Zwanzig Jahre später jedoch übertrifft die Zahl der Produkte und Installationen nach IEEE 1815 diejenigen nach IEC 61850 bei weitem. Und das, obwohl IEC 61850 mit seiner objektorientierten Architektur, die eine vereinfachte Stationsverkabelung und Interoperabilität über verschiedene Herstellerplattformen hinweg verspricht, weit über die von IEEE 1815 abgedeckten Bereiche hinausgeht, der lediglich ein Kommunikationsprotokoll anbietet.
Die Tatsache, dass IEC 61850 wesentlich langsamer aufgegriffen wird, könnte auch auf neue Konzepte wie beispielsweise die Pflicht, Ethernet-Geräte innerhalb der Schaltanlage einzusetzen, zurückgeführt werden sowie auf eine grundlegende Änderung bei Schutz, Steuerung und dem Design von sekundären Spannungs- und Stromwandlern (PT/CT). Die wesentliche Ursache liegt jedoch in der mangelnden Interoperabilität zwischen den Plattformen verschiedener Hersteller.
Drei wesentliche Bereiche von IEC 61850 zielen darauf ab, Interoperabilität herzustellen:
>> IEC 61850-7: Basis-Kommunikationsstruktur für Schaltanlagen und Zuführeinrichtungen
>> IEC 61850-8: Specific Communication Service Mapping (SCSM)
>> IEC 61850-9: Specific Communication Service Mapping (SCSM)
Die Kommunikationsprotokolle MMS, GOOSE und Sampled Values (SV) wurden als Hilfsmittel zur vereinfachten Installation, Konfiguration, Kommissionierung und dem Betrieb einer Schaltanlage durch die Schaffung einer gemeinsamen Sprache und eines gemeinsamen Formats zur Verwendung durch alle IED-Anbieter erdacht und gefördert.
Doch während die gemeinsame Sprache eindeutig definiert ist, wurden die Regeln und Konventionen, die eine echte Interoperabilität schaffen würden, leider nicht im Normenkonstrukt des IEC 61850 definiert. Demzufolge kann jeder Hersteller eine konforme Variante des IEC 61850 nach seinem eigenen "Geschmack" implementieren, die in der Regel jedoch nicht zu der Variante eines anderen Herstellers passt. In einer Schaltstation, in der Komponenten unterschiedlicher Hersteller zum Einsatz kommen, greifen diese Varianten einfach nicht ineinander. Stattdessen schaffen sie ein Durcheinander, das komplexe und kostenintensive Integrationsbemühungen erfordert - genau das also, was der Standard IEC 61850 verhindern sollte.
Folgende offenen Fragen in Bezug auf IEC 61850 folgende sollten nach Ansicht der IEEE-Standardorganisation von einer Anwendergruppe mit Fokus auf die praktische Implementierung behandelt werden:
>> Syntax ohne Definition: IEC 61850 definiert sehr gut eine Syntax-Methodik zur Abdeckung nahezu jedes Elements und Systems, das es in einem Umspannwerk gibt. Konforme Implementierungen werden von dieser Syntax Gebrauch machen, die auch von anderen Systemen und Produkten verstanden werden kann. Was jedoch fehlt, ist eine Definition der zugrundeliegenden Funktionalität, wie z.B. die in der Syntax beschriebenen "logischen Knoten".
>> Lockere Definition von Funktionalität und Hierarchie: Obwohl das Konzept der logischen Knoten ein hohes Maß an Flexibilität bietet, bleibt es jedem Hersteller selbst überlassen, die Funktionalität und Hierarchie des jeweiligen logischen Knotens und die Art und Weise der Interaktion mit anderen logischen Knoten selbst festzulegen.
>> Konfigurationsfrust: Ein weiteres Versprechen des IEC 61850 war die einfache Konfiguration eines Datenkonzentrators für Schaltanlagen, einer Benutzerschnittstelle (HMI) oder eines Datengateways für SCADA. Dabei wäre sicherlich eine optimalere Lösung wünschenswert als die Pflege von einzelnen Tabellen je Gerät (wie in IEEE 1815 vorgesehen). IEC 61850 leistet dies zwar, aber die Hersteller setzen es um, indem sie die Erstellung einer komplexen Kommunikationskonfiguration in jedem IED verlangen. Diese komplexe IEC 61850-Konfiguration muss demnach noch zusätzlich zu der Konfiguration der primären IED-Funktion (z.B. Schutzeinstellungen) vorgenommen werden. Und da IEC 61850 sich zudem dazu ausschweigt, wie IEDs zu konfigurieren sind, kann jeder Hersteller seinen eigenen Konfigurationsansatz entwickeln und tut dies auch.
>> Dokumentationsdilemma: Seit mehr als 80 Jahren fußt nun schon die Dokumentation von Einrichtungen der Energieversorgung auf einem Standard, der als IEEE 37.2 "IEEE-Standard für Gerätefunktionsnummern, Abkürzungen und Kontaktkennzeichnungen in Stromversorgungsanlagen" bekannt ist. Dieses Dokument entwickelte die Kurzbezeichnungen, die zu einem festen Bestandteil bei Energieversorgern in aller Welt geworden sind. Neben über 100 anderen Funktions- und Gerätebezeichnungen wird beispielsweise der Standard dafür gesetzt, dass ein Wechselstrom-Trennschalter als "52 Device" bezeichnet wird. IEC 61850 weicht von diesem Standard ab und führt eine völlig neue Terminologie ein.
Merging Units: Einer der beabsichtigten wirtschaftlichen Nutzen der IEC 61850 war die Funktion der Abtastwerte oder Sampled Values sowie eines Prozessbusses, der die üblicherweise für Schutz- und Steuerungskreise verwendeten kostspieligen Trip-, Interlock-, Stromwandler- (CT) und Spannungswandler- (PT) Verkabelungstechniken ersetzt. Unter Verwendung des Sampled Values-Datenaustausches nach der IEC 61850-Norm ist es theoretisch möglich, Schutz-, Mess- und Anlagenüberwachungsgeräte ohne sekundäre CT- und PT-Eingänge oder festverdrahteten I/O zu haben. In der Praxis kommt dies jedoch nicht in großen Ausmaß vor. Auch wenn die Anbieter Merging Units herstellten, so haben diese nicht die gesamten Konfigurationsmöglichkeiten in ihre Umsetzung der IEC 61850 eingebaut, die notwendig wären, damit IEDs anderer Hersteller die Daten standardisiert nutzen können.
Fazit
Die hier skizzierten Probleme sind charakteristisch für die von Stromversorgern eingesetzten digitalen Technologien. Eine Kommunikationssyntax zu haben, ist nicht genug. Es sind darüber hinaus Regeln notwendig, um Problematiken bei Betrieb und Implementierung mit Geschick zu behandeln. An der Stationsautomatisierung sind üblicherweise mehrere IED-Anbieter beteiligt. In einem solchen Umfeld werden die Vorzüge des IEC 61850-Standards durch die in diesem Artikel dargestellten Komplikationen aufgehoben. Diese Komplikationen werden noch verschärft durch die erhöhten Kosten von IEC 61850-konformen IEDs und die philosophischen Barrieren beim Einsatz von Netzwerken anstelle fest verdrahteter Verbindungen zur Übermittlung kritischer Schutzsignale. Es ist leicht verständlich, warum IEC 61850 keine breitere Umsetzung erfahren hat. Die Lösung ist relativ einfach, wenn wir uns die Geschichte ähnlicher Standards ansehen.
"Auch IEEE 1815 war einmal in einem vergleichbaren Stadium. Anders als bei IEC 61850 profitierte DNP3 jedoch von einer aktiven internationalen Anwendergruppe, die das Basisdokument nahm und zu einem mit Regelsätzen für die Implementierung vervollständigten Schriftstück machte. Dieser Aufwand, zusammen mit der Beteiligung von Praktikern aus den Energieversorgungsbetrieben, hat IEEE 1815 zu dem heute weltweit meistangewandten Protokoll in diesem Bereich gemacht", resümiert Rick Liposchak, Vorstand der Arbeitsgruppe IEEE Substations C15 P2030.100.
Ein IEC 61850-Implementierungsleitfaden, der speziell auf die Erleichterung eines herstellerneutralen IED-Umfeldes ausgerichtet ist und von den Energieversorgern ausgearbeitet bzw. an deren Bedürfnisse angepasst wird, stellt den einzigen Weg dar, auf dem die Technologie sich von einer interessanten technologischen Fußnote zu einer etablierten Technik in der Energieversorgung wandeln kann.
(IEEE Standards Association: ra)
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